Presseerklärung der Strafverteidigervereinigung NRW zum Prozessauftakt im sog. NSU-Verfahren:
Opferfokussierung gefährdet Wahrheitsfindung
Wir beobachten das Verfahren gegen Zschäpe u.a. vor dem Oberlandesgericht München. Uns eint Mitgefühl mit den Angehörigen der Getöteten, Empörung und Scham über das schreckliche Ausmaß der bei der Verfolgung der nunmehr angeklagten Taten an den Tag gelegten Untätigkeit, Vertuschung und Ignoranz gegenüber rechtsradikalen und neonazistischen Umtrieben.
Wir befürchten allerdings, dass dieses Verfahren und seine Wahrnehmung, wie es geführt und publizistisch begleitet wird, rechtsstaatlichen Strafverfahrensstandards und Verfahrensrechten von Verteidigung Schaden zu bereiten und weitere Verschiebungen zu Lasten von Verteidigung herbei zu führen droht.
Wir beobachten, dass den durch jeweils zwei bis drei Verteidigern verteidigten Angeklagten mit unterschiedlichen und z.T. gegensätzlichen Interessen und Strategien angesichts von zehn Mordvorwürfen neben der Anklagebehörde eine Phalanx von etwa 70 Nebenklagevertretern, die zahllose Angehörige der neun getöteten Menschen vertreten, gegenüber sitzt.
Wir beobachten eine Berichterstattung und öffentliche Wahrnehmung, die ausschließlich die Befindlichkeit der Angehörigen der Getöteten in den Mittelpunkt stellt und jede Bewertung prozessualen Verhaltens allein hieran orientiert.
Dies gibt Anlass klarzustellen:
Auch und selbstverständlich auch für die Angeklagten dieses Verfahrens gelten die Unschuldsvermutung und der Zweifelsgrundsatz, demzufolge ein Beschuldigter erst schuldig ist, nachdem seine rechtskräftige Verurteilung erfolgt ist.
Die im Zentrum des Strafverfahrens und des staatlichen Strafanspruchs stehende Person ist der Angeklagte. Er ist Prozesssubjekt. Dies gilt mit allen Rechten auf rechtsstaatliche und effektive Verteidigung auch für die Angeklagten dieses Verfahrens.
Die Strafverteidigervereinigungen lehnen eine Teilhabe von Nebenklägern und ihren Vertretern am Strafverfahren mit allen Rechten, wie sie auch Verteidiger haben, ab, da dies die Rechte von Verteidigung tangiert und in Extremfällen, zu denen dieses Hauptverfahren gehören mag, marginalisieren kann. Das deutsche Strafverfahren folgt der Offizialmaxime und ist nicht Parteiprozess wie der angloamerikanische. Ein Verfahren, in dem dem von bis zu maximal zulässigen drei Verteidigern verteidigten Angeklagten neben den Anklagevertretern etwa 70 Nebenklagevertreter gegenüber sitzen, begründet bereits auf den ersten Blick die Sorge eines Verstosses gegen die Gebote des fair trial.
Die Hauptverhandlung ist der Ort ausschließlich der Klärung der Frage der Schuld der Angeklagten unter Wahrung der Gebote des fair trial und der Unschuldsvermutung. Sie ist nicht der Ort geschichtlicher Aufarbeitung oder der Abrechnung mit mannigfaltigem Versagen von Strafverfolgungsbehörden. Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständliches Recht der Angeklagten zu schweigen und die selbstverständliche Wahrnehmung gebotener Verteidigeraufgaben, in begründeten Fällen etwa Befangenheitsanträge gegen Gerichtspersonen zu stellen. Verteidigerverhalten hat sich allein und ausschließlich an der bestmöglichen Verteidigung zu orientieren, nicht an öffentlichen Erwartungen, der Befindlichkeit Angehöriger der Opfer oder dem publizistischen Mainstream.
Wir als Strafverteidiger lehnen aus grundsätzlichen Erwägungen jede einseitige Durchsuchung von Verteidigern vor Prozessbeginn oder dem Aufsuchen von Mandanten in den JVA’s ab, solange nicht konkrete Verdachtsgründe im Einzelfall vorliegen und dargelegt werden können. Wir verwahren uns gegen eine mit einer solchen Durchsuchung verbundene pauschale Diskriminierung als Berufsgruppe. Wir erachten richterliche Anordnungen, die eine solche pauschale Verdächtigung suggerieren, für den möglichen Ausdruck von Befangenheit.
Bochum, den 7. Mai 2013